Über den Dächern von Bern
Wenn man vom Münsterturm auf die Dächer der Berner Altstadt hinunterschaut, sieht man fast ausschliesslich die üblichen Biberschwanzziegel auf allen Dächern. Alles sieht aus als wäre es schon immer so gewesen. Tatsächlich aber wissen wir, dass die Häuser unter den Dächern über die Jahrhunderte oft geändert, oder gar neu gebaut wurden. An den Ziegeln oder Dächern ist das Alter der Häuser nicht ablesbar, man müsste darunter schauen.
Archäologen und Historiker wissen mehr darüber. Welches ist nun das älteste ursprünglich erhaltene Bauwerk der Berner Altstadt? Vermuten könnte man es in der Nydegg, dort war ja die Burg des Berchtold von Zähringen, aber gerade um die Nydegg hat sich das alte Bern am wenigsten erhalten. Dort ist ausser der Untertorbrücke kaum etwas älter als fünfhundert Jahre. Wir müssen anderswo suchen. Das Münster bietet sich an, es ist das eindrücklichste Bauwerk der Stadt. Aber sein Bau wurde erst nach dem Stadtbrand von 1405 begonnen. Heuer wird das Chorgewölbe fünfhundertjährig. Auch das Rathaus ist nicht so alt, in der Zeit von 1406 bis 1515 ist es entstanden. Auch die ehemaligen Wehrtürme sind nicht mehr ursprünglich, bleiben nur noch die ehemaligen Klöster. Das Barfüsserkloster ist weg, für das Inselkloster steht das Bundeshaus Ost, die Johanniter wichen für das Chorherrenstift, von den Antonitern zeugt nur noch die 1444 bis 1494 erbaute Antonierkirche an der Postgasse, aber was gäbe es noch Älteres?
Da ist nur noch die heute als “Die Französische” bekannte Kirche. Das ehemalige Dominikanerkloster, auch Predigerkloster genannt, war von ab 1269 in Bern sesshaften Dominikanermönchen gebaut worden. Es hatte den grossen Stadtbrand als eines der wenigen Gebäude unbeschädigt überstanden. Die damaligen Bauleute des Klosters waren von Frankreich her gekommen und sie brachten ihre Kenntnisse mit. Gerade knapp ausserhalb der damals nur bis zum Zytglogge ausgedehnten Stadt stellte ihnen der Rat Bauland zur Verfügung und so gründeten sie dort ihr Kloster. Sie bauten ihr Konventsgebäude, die dazugehörigen Wirtschaftsräume und eine Kirche. Das ganze Grundstück wurde mit einer Mauer umschlossen. Ein Kloster sollte ein eigenständiger Lebensraum für die Ordensleute sein, sie sollten von der Umwelt abgetrennt ihr gottgefälliges Leben führen, darum stehen noch heute hohe Mauern um aktive Klöster. Eben an diese Mauer malte später Niklaus Manuel das eindrückliche Memento mori als fasnächtlichen Totentanz.
Die Mauer mit dem Totentanz verschwand zum Bedauern der Bevölkerung 1660 bei der Erweiterung der Zeughausgasse. Die übrigen Gebäude des Klosters wurden nach dessen Aufhebung profan umgenutzt. Erst um 1900, als man Platz für das neue Stadttheater brauchte, kam auch da der Abbruchhammer zum Einsatz.
Das ehemalige Sommerrefrektorium, wo einst Kaiser und Papst tafelten, welches von den führenden Meistern der Zeit mit Wandmalereien verziert war und leider nur noch als Lager für allerlei Gerümpel diente, verschwand klanglos. Einzig die alte Kirche blieb bis in die heutige Zeit erhalten. Die Berner Bürger gaben den Bettelmönchen grosszügige Sach- und Geldspenden für den Kirchenbau. Gross genug musste sie sein und doch schlicht und schmucklos, wie es der Ordensregel entsprach. An die 70 Meter lange dreischiffige Basilika waren am oktogonalen Chor links eine Johanneskapelle und rechts eine Marienkapelle angebaut. Die beiden Kapellen sind bei späteren Umbauten abgerissen worden. Über das lange Mittelschiff und das hohe Chorhaus wurde ein einheitlicher Dachstuhl gebaut und mit Biberschwanz-Tonziegeln gedeckt. Diese aufwändigere und teurere Ausführung des Dachs hat sich dann beim grossen Stadtbrand bewährt, kein Funkenflug konnte den roten Hahn aufs Klosterdach tragen.
Für die Glocken der Bettelordenskirche genügte ein auf der Chortrennwand aufgestellter Dachreiterturm. Der originale Dachstuhl ist noch heute vorhanden und somit der grösste und älteste einer Schweizer Kirche.
Bei einer Führung zeigte der Historiker Daniel Gutscher die Besonderheiten des alten Gebälks. Mit dendrologischen Untersuchungen haben die Forscher festgestellt, dass die Bäume für das Dach im gleichen Jahr geschlagen wurden. Daraus schliesst man, dass das Holz aus einem einzigen Wald und von einem einzigen Stifter stammen muss. Es muss auch bereits länger gelagert worden sein, denn es wurde erst einige Jahre nach dem festgestellten Fällzeitpunkt trocken eingebaut. Gleich neben dem Klosterareal war damals der Holz- und Werkplatz der Stadt, dort haben die Zimmermänner das Dachwerk am Boden zugerichtet. Alle die verschieden Sparren, Schwellenbalken, Pfetten und Ständer nach gleichen Massen. Wobei sie sich wohl nicht mit den Maurern abgesprochen haben, denn die gleichmässige Breite des Dachs deckt sich nicht mit der Mauerbreite. Das ist am Dachvorsprung von unten noch heute sichtbar. Die schlanke Konstruktion, war über lange Jahre stabil und hielt jedem Sturm stand. Erst 70 Jahre später und nochmals bei der Anpassung des Dachs an das wegen dem Zeughausneubau verkürzte Schiff, wurden Verstärkungen eingebaut. Damals ist auch die heute sichtbare Bretterdecke eingezogen worden. Allerdings wurde noch immer auf die seitliche Stabilisierung verzichtet, was von den jetzt verantwortlichen Ingenieuren nicht länger toleriert werden konnte. Der Denkmalschutz erlaubte aber keinerlei Verschraubungen am bestehenden Holzwerk, darum konstruierte man in sich verspannte Rahmen und verband sie mit den Ständerbalken. Mit diesen “Scheiben” als Windverband wurde die nötige Sicherheit erreicht und sowohl die Bauaufsicht als auch der Denkmalschutz beruhigt.
Was hat sie alles gesehen, in ihrer langen Geschichte. In den ersten beiden Jahrhunderten predigten und lehrten darin die wegleitenden Theologen der Dominikaner. Auch das berüchtigte Inquisitionsgericht hatte dort seinen Sitz. Mehrere Altäre waren mit Heiligenbildern und geschnitzten Figuren geschmückt. Die Rosenkranzbruderschaft liess von den Nelkenmeistern die Spickel und Felder der Lettnerbögen bemalen.
Hinter dem Lettner war, vom gemeinen Volk im Langhaus getrennt, der nur den geistlichen Herren vorbehaltene Chor. Für den dort stehenden Hochaltar hatte Niklaus Manuel die Flügelaltarbilder gemalt. Die Tafeln des sog. Annenaltars beschrieben die Herkunft Mariens, deren normal-menschliche Geburt und gleichzeitige Befreiung von der Erbsünde, dies war den Dominikanern besonders wichtig. Auf einer der Aussenseiten hat sich der Maler selbst als Hl. Lukas der die Madonna malt, dargestellt. Möglicherweise ein Hinweis auf eine Stiftung der Lukasbruderschaft der Maler, Bildhauer, Glaser, Goldschmiede, Münzer und Seidensticker.
Im 15. Jahrhundert ging dann der Glanz des Kloster langsam verloren und hatte mit dem Jetzerhandel seinen absoluten Tiefpunkt. In der bald folgenden Reformationszeit wurden die Klosterbrüder vertrieben und das Kloster wurde ein Spital, das Kirchenschiff die zugehörige Kapelle. Der hohe Chor wurde mit einer Mauer abgetrennt und Zwischenböden eingezogen und in Kornkammern und Weinkeller umgewandelt.
Die Anfangs des 17. Jahrhunderts in Bern entstandene reformierte französische Kirchgemeinde und die nach 1685 von Frankreich immigrierten Protestanten erhielten dort ihre eigene Kirche und damit bekam auch die ehemalige Predigerkirche ihren neuen Namen. Die französischen Hugenotten waren in Bern willkommen, denn man erhoffte sich durch sie neue Wirtschaftszweige zu erschliessen. Sie brachten die Seidenraupenzucht nach Bern, daran erinnern noch der Seidenweg und die Maulbeergasse. Die Raupenzucht wurde auch im Bremgartner Schlossgut versucht, aber irgendwie scheint es nicht grossen Erfolg gehabt zu haben. Den Bernern wäre es recht gewesen, hätten die Teppichknüpfer aus Aubusson ihre Kunst hier weitervermittelt, aber es blieb bei einer einzigen Tapisserie. Denn die Hugenotten zogen weiter, weiter nach Norden, in die vom Dreissigjährigen Krieg entvölkerten Länder. Ihre Nachkommen könnte man unter den Sarrasin oder de Meziere finden.
Die französische Kirche wurde nach 1805 zur Hälfte vorübergehend den wieder in Bern zugezogenen Katholiken für ihre Gottesdienste überlassen. 1875 kaufte die Reformierte Gesamtkirchgemeinde Bern die Kirche.
Erst der Architekt Karl Indermühle hat 1909 – 1913 wieder mit einigen Umbauten wesentliche Erneuerungen gebracht. Über dem Versammlungsraum im Parterre des Chors wurde eine kunstvoll gestaltete Kapelle eingerichtet. Bei der Restaurierung 1962 wurde diese wertvolle Ausstattung zerstört, das erleichterte 1988 den Entscheid bei der anstehenden Restaurierung den Zwischenboden zu entfernen und eine möglichst ursprüngliche Raumgestaltung anzustreben.
So sehen wir heute eine Kirche, die sowohl zeitgemässe Nutzung erlaubt, als auch die alte Würde bewahrt. Wer einmal die Gelegenheit hat mit der Sigristin die Wendeltreppe zur Glocke und zum Dachboden zu besteigen, soll sich bewusst sein auf dieser Höhe in die tiefste Geschichte Berns eingetaucht zu werden.
Die Bilder hat Erwin Weigand zusammengesucht oder selbst aufgenommen.