Ich sehe, was du nicht siehst
Was fĂŒr eine Freude! Endlich konnten Berner BĂ€re-Höcklerinnen und Höckler wieder einmal gemeinsam einen Ausflug machen: Das Blindenmuseum mit dem Titel «anders sehen», angegliedert an die Blindenschule Zollikofen, ist auch fĂŒr Sehende eine horizonterweiternde Entdeckung.
In Bern, besonders im Bahnhof, begegnen mir nicht selten blinde oder sehbehinderte Menschen. Sie gehen mit sicherem Schritt, vielleicht etwas vorsichtiger als andere, und lassen sich von der Hast der andern nicht beirren. Dass hier mehr Sehbehinderte als anderswo ihren Weg gehen, hat mit der Blindenschule zu tun, die sich seit 1961 in Zollikofen befindet. Wer auswÀrts wohnt, muss im Bahnhof umsteigen. Davon spÀter noch.
Wer das Blindenmuseum besucht, erwartet keine spektakulĂ€ren Objekte, er will wissen, wie es sich anfĂŒhlt, die Umgebung nicht mit den Augen wahrnehmen zu können, und fragt, wie die Betroffenen damit umgehen. Zuerst werden wir mit den Erfahrungen einiger Menschen konfrontiert, die diese Schule besuchen oder frĂŒher besucht haben. Hier wie an anderen Orten des Museums erkennen wir, dass die moderne Elektronik den betroffenen Sehbehinderten wichtige Dienste leistet â und wie wir dadurch unmittelbar von ihnen hören und sehen, was sie bewegt.
Blindenmuseum von aussen, eine Holzkonstruktion mit rostbraunem Holzschutz
Im Foyer, dem grauen Bereich, können wir in Bild und Ton einige Menschen kennenlernen. Da ist Jonas, 20 Jahre alt, der nach einer misslungenen Operation erblindet ist. Er sagt: «Zu meinen Leidenschaften gehört das Reisen â am liebsten auf Schienen – sowie das Entdecken anderer, mir nicht bekannter Kulturen.» Nachdem er diesen Wunsch zusammen mit einem ebenfalls sehbehinderten Freund verwirklicht hat, plant er nun, ein Jus-Studium zu beginnen.
Da ist Anja, sie erzĂ€hlt uns, wie schwierig es ist, als Sehbehinderte einen Arbeitsplatz zu finden. WĂ€hrend ihrer Schulzeit, erklĂ€rt sie, wurde ihr gesagt, sie solle sich anstrengen und gute Leistungen erbringen. Das tat sie, schloss die Schule als Zweitbeste ab und musste doch unzĂ€hlige Bewerbungen schreiben, ehe sie schliesslich eine Stelle fand. â FĂŒr Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen ist es immer noch sehr schwer, in den Arbeitsprozess integriert zu werden.
Museumsplan fĂŒr Sehende und Sehbehinderte. Beachten Sie die Braille-Schrift!
Da ist Claudio, seh- und ĂŒberdies auch multipel behindert; er kann nicht sprechen, doch die moderne Elektronik kann helfen: Claudio hat ein GerĂ€t, mit dem er lernt, sich verstĂ€ndlich zu machen.
Da ist die Seniorin Greti Kilchenmann, sie hat ihr langes Arbeitsleben als kaufmĂ€nnische Angestellte verbracht. Auch sie konnte weite Reisen unternehmen, Französisch und Englisch lernen. Sie erzĂ€hlt, dass sie gern pensioniert ist, denn das gibt ihr Zeit fĂŒr ihre vielen Interessen, Yoga z.B. Schwierig waren jedoch die letzten Jahre, da wegen der Pandemie Kontakte und Treffen, z.B. der regelmĂ€ssige Mittagstisch, weggebrochen waren. Viele Radiohörerinnen in der Umgebung von Bern kennen sie von ihren Interviews fĂŒr Radio 60plus.
Werkzeuge zur Herstellung der Braille-Schrift
Vom grauen Bereich treten wir in den Dunkelraum, es ist wirklich stockfinster, gut auszuhalten, wenn wir wissen, dass es nur einen kurzen Moment dauert â und wer sich unwohl fĂŒhlt, macht sein Handy an! Aber wir sind hier, um zu erkunden, wie blinde Menschen die Welt wahrnehmen. In einem kurzen Hörspiel erklĂ€rt Nicole, 13 Jahre alt, wie sie morgens in die Blindenschule kommt. Der Wecker sagt ihr ganz schnell die Zeit, im Gang stolpert sie ĂŒber Spielsachen, die ihr Bruder vergessen hat aufzurĂ€umen, in der KĂŒche steht noch Papas Espressokanne. Nicole kann ihr FrĂŒhstĂŒck selbst zubereiten, denn alles, was sie braucht, steht in ihrem separaten Fach.
Nicole lernt solche praktischen Dinge ebenfalls in der Blindenschule. Dort werden nicht nur die ĂŒblichen FĂ€cher gelehrt, sondern auch das Fach O+M: Orientierung und MobilitĂ€t. Dort lernen die jungen Sehbehinderten beispielsweise, wie sie sich im Bahnhof orientieren können. Vom Bahnhof Bern sehen wir im Museum ein Modell zum Auseinandernehmen, das im Unterricht verwendet wird, damit sich die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler den Bahnhof vorstellen können. â Die Blindenschule versteht sich als Schule zum Lernen UND als Lebensschule.
Spiele mit gut tastbaren Spielfiguren, die magnetisch haften. Das grosse X rechts bedeutet, dass Sehbehinderte hier auf ihrem LesegerÀt eine ErklÀrung zu diesem Teil erhalten.
Auf ihrem Schulweg muss Nicole einige HĂŒrden meistern, gut, dass die weissen Streifen im Bahnhof sie leiten. Auch Fröhliches geschieht: Auf ihrem Handy hört sie eine Chat-Nachricht, sie antwortet darauf. Mir fĂ€llt auf, dass diese Nachrichten unglaublich schnell gesprochen sind, fĂŒr mich fast unverstĂ€ndlich. Dazu befrage ich Silvia BrĂŒllhardt, Museumsleiterin und heute unsere FĂŒhrerin. Sie erklĂ€rt mir, dass Blinde ungeduldig sind, sie haben ihren Ohren ein schnelleres Tempo antrainiert, um nicht zu viel Zeit zu verlieren. Denken wir daran: Wenn wir einen einfachen Text lesen â mit den Augen ĂŒberfliegen -, geht das auch viel schneller, als wenn uns jemand vorliest.
Mit den Erlebnissen im Dunkeln treten wir hinaus in die helle Welt der Geschichte: Wir sehen, wie Louis Braille (1809-1852) als 16-jÀhriger die Blindenschrift entwickelte und was es heute an Hilfsmitteln gibt. Auch blindengerechte Spiele gehören dazu. Mich beeindruckt die dreidimensionale Geografie, es sind «taktile Landkarten». Der ElsÀsser Martin Kunz (1847-1923), Direktor der Illzacher Blindenanstalt, schuf dieses Hilfsmittel, wo sich alles Sichtbare ertasten lÀsst. Seine Reliefkarten werden weltweit im Unterricht genutzt, denn auch Sehende begreifen Landschaften auf diese Weise besser.
Eine taktile Landkarte, rechts ein Druckstock aus Holz
BĂŒcher fĂŒr Sehbehinderte lesbar zu machen, ist nach wie vor eine Herausforderung. BĂŒcher in Braille-Schrift zu ĂŒbersetzen, kann nicht einfach einem elektronischen Programm ĂŒberlassen werden. Ebenso wie bei normalen Ăbersetzungen versteht der Rechner die Sprache nicht so gut wie ein Mensch. Zudem werden BĂŒcher in Braille-Schrift sehr gross und dick, kurz unhandlich. â Im Museum können wir sie in die Hand nehmen. Schreiben und Vorlesen (im schnellen Tempo!) durch einen PC bringen jedoch eine bedeutende Erleichterung.
Das Blindenmuseum in Zollikofen erhielt vor kurzem eine bedeutende internationale Auszeichnung: Als eines von sieben Museen in Europa erhielt es die WĂŒrdigung «special commendation» fĂŒr seine vorbildliche Lernumgebung mit dem Ziel, Sehbehinderte und Blinde auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten. Das Museum entstand aus einer Sammlung, die der ZĂŒrcher Theo Staub schon im 19. Jahrhundert angelegt hatte. Bis sie nach Zollikofen umzog, befand sie sich in der «Blindenanstalt» in Spiez. Dieses GebĂ€ude steht als wunderschönes Modell zum Auseinandernehmen im Museum.
Nicht alle Blindenstöcke sind gleich! (alle Fotos: mp)
Alle Ausstellungsobjekte dĂŒrfen wir berĂŒhren â das Museum dient ja auch den Sehbehinderten als Dokumentation. Im Atelier dĂŒrfen wir Verschiedenes ausprobieren, z.B. Schriftzeichen zusammensetzen. Und ich nehme einen Blindenstock, schliesse die Augen und gehe geradeaus durch den Raum auf eine Besucherin zu, die mir ausweicht und aufpasst, dass ich nicht an eine Kante stosse. â Dabei ist es fĂŒr mich immer noch viel zu «leicht», denn ich habe mir ja vorher schon einen Eindruck vom Raum gemacht, mit offenen Augen.
Weitere Informationen ĂŒber das Blindenmuseum: Link: https://www.blindenmuseum.ch/de/
Ab drei Personen werden sehr empfehlenswerte FĂŒhrungen durchgefĂŒhrt.